Redakteur Kultur & Medien
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Ich möchte Sie nicht lange aufhalten, Sie haben sicher viel zu tun. Aber denken Sie bitte daran: Weihnachten bzw. die Zeit davor ist das, was Sie daraus machen. Genug der guten Ratschläge! In meinem letzten "Lesezeichen" des Jahres möchte ich Ihnen zehn Bücher noch einmal ans Herz legen. Ich habe sie bereits einmal empfohlen, aber das ist meine ganz persönliche Bücher-Hitliste 2024.
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Peinliche Wehleidigkeit oder genialer Marketing-Trick? Der deutsche Schriftsteller Clemens Meyer hat bekanntlich ziemlich wüst die Jury beschimpft, dass nicht er für seinen Roman „Die Projektoren“ den diesjährigen Deutschen Buchpreis verliehen bekam, sondern seine Kollegin Monika Hefter für das Buch „Guten Morgen, wie geht es dir?“ Meyers Reaktion ist durchaus fragwürdig, sein monumentales Werk, an dem er fast zehn Jahre lang gearbeitet hat, aber hochgradig preiswürdig.
Um es gleich vorwegzunehmen: Dieser mächtige Brocken, 1041 Seiten dick ohne Anhang, ist eine Herausforderung, streckenweise sogar eine Zumutung - allerdings eine grandiose. Man muss als Lesender schon sehr furchtlos sein, um sich auf dieses sperrige, störrische, böse Biest einzulassen. Aber Literatur darf ruhig einmal zwicken, ziehen, zornig machen, schwer im Magen liegen und nicht so leicht runterflutschen wie so manche autofiktionale Dutzendware.
Und Dutzendware ist dieses Ungetüm, das man erst zähmen muss, wahrlich keine. Bereits am Versuch, auch nur ansatzweise eine Inhaltsangabe wiederzugeben, scheitert man kläglich. Meyer hat einen vielschichtigen, durch Zeit und Raum mäandernden Montageroman in die Karstlandschaft gesetzt. Am ehesten kann man „Die Projektoren“ als fantastisch irrlichternde Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts lesen; als blutige, eitrige, giftige, überschäumende Fieberfantasie, die im Zweiten Weltkrieg in Jugoslawien beginnt und bis ins Ostdeutschland der 90er-Jahre führt.
Dazwischen: Epochenbrüche, mehrfach durch Faschismus, Sozialismus oder Kapitalismus deformierte Menschenfiguren; Soldaten, Partisanen, Neo-Nazis, Indianer, Cowboys – und (Dr.) Karl May bzw. dessen fiktiv-literarischer Kosmos als Unterfutter. Gleich im Eröffnungskapitel führt ein Amerikaner mit dem Leiter einer Irrenanstalt einen Dialog. „Ich bewundere Ihre Anstalt, Herr Doktor, wie Sie versuchen, Ordnung ins Chaos zu bringen“, sagt der Amerikaner. Der Doktor antwortet: „Ach, wissen Sie, wir folgen hier so vielen Stimmen, dass wir uns häufig selbst verlieren.“ Auch in diesem vielstimmigen Roman verirrt man sich oft. Was für ein rauschhafter Wahn, was für eine unbändige Wortflut, was für ein in den Himmel ragendes Ideengebäude! Man flucht über dieses Buch, ächzt, stöhnt, aber vor allem staunt man immer wieder freudig erregt darüber, wozu Literatur fähig ist.
Clemens Meyer. Die Projektoren. S. Fischer, 1041 Seiten, 37,95 Euro.
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Die missbräuchliche Verwendung des Begriffs „kafkaesk“ wird bekanntlich mit der Verbannung in eine Strafkolonie bestraft, aber bei der Lektüre dieses gleichermaßen großartigen wie bedrückenden Romans kann man nicht anders, als an den Prager Solitär zu denken. „Die Nacht ist angebrochen, und sie hat das Klopfen nicht gehört, sie steht am Fenster und schaut in den Garten.“ Mit diesem Satz beginnt „Das Lied des Propheten“ des irischen Schriftstellers Paul Lynch. Sie, das ist Eilish, Wissenschafterin und Mutter von vier Kindern. Und das Klopfen stammt von zwei Geheimpolizisten, die gekommen sind, um ihren Mann Larry zu befragen. Später, im Laufe der Handlung, wird Larry, Lehrer und Gewerkschafter, ohne Angabe von Gründen verhaftet und nie wieder auftauchen.
„Das Lied des Propheten“, 2023 mit dem renommierten Booker-Prize ausgezeichnet, ist eine Dystopie, wenngleich das Szenario in vielen Ländern Realität ist. Irland wird von einer faschistoid-nationalistischen Einheitspartei regiert. Wie es dazu gekommen ist, erfährt man nicht. Lynch stellt das hemmungslos Autoritäre als erschreckende, aber unausweichliche Tatsache hin. Wer dem Regime verdächtig erscheint, wird zuerst verhört und verschwindet dann spurlos. Als immer mehr Jugendliche zum Wehrdienst einzogen werden, regt sich Widerstand, schließlich bricht ein Bürgerkrieg aus. Dystopien, also die dunkle Kehrseite von Utopien, sind in der Literatur schon immer en vogue gewesen und erleben in den letzten Jahren eine Hochblüte.
Was Paul Lynchs Roman so besonders und originär macht, ist gar nicht so sehr der Inhalt, sondern die Form, die Sprache, mit der er das Bedrohliche, Bedrückende, Beschämende beschreibt. Als Lesender befindet man sich mitten in einem atemlosen Albtraum, ist nicht mehr Zeuge des Geschehens, sondern ein Teil davon. Was Eilish erlebt und erleidet, spürt man gleichsam am eigenen Körper. Der Text fließt oft als Bewusstseinsstrom dahin, ohne Anführungszeichen, ohne Absätze, unbändig und unheilvoll. Aber das Erschreckendste an diesem herausragenden Buch: Das Roman-Irland von Paul Lynch war einmal ein funktionierender Rechtsstaat. Und niemand hätte es für möglich gehalten, dass gleichsam über Nacht alle vermeintlichen Gewissheiten und Sicherheiten erodieren und das Totalitäre regiert. Alle haben zugeschaut, aber niemand hat etwas gesehen. Bis die beiden Geheimpolizisten vor der Tür standen.
Paul Lynch. Das Lied des Propheten. Klett-Cotta, 311 Seiten, 26,50 Euro.
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Wenn Kabarettistinnen zur Feder greifen, aus der Literatur fließen soll, besteht die Gefahr, dass sie das Buch mit der Bühne verwechseln und in jedem Satz eine lustig-resche Pointe platzieren wollen. Ulrike Haidacher, als Teil des Theaterkabarett-Duos Flüsterzweieck vielfach ausgezeichnet, begeht diesen Fehler auch in ihrem zweiten Roman „Malibu Orange“ nicht. Ihr Roman-Debüt „Die Party. Eine Einkreisung“ war eine gelungene, sprach- und ideenoriginale Satire auf die verlogene Liberalismus-Attitüde der Kunstschickeria, das neue Werk verhandelt eine Reihe von brennenden, ja existenziellen Themen. Sie tut das mit einer unverkrampften Leichtigkeit, gut dosiertem Humor und immer großem Respekt vor den Verletzungen und Verwerfungen ihrer Figuren.
Und davon gibt es genügend. Anja, diplomierte Krankenpflegerin Anfang 30, kehrt nach einem Burn-Out ins Elternhaus im obersteirischen Industriekaff zurück. Im Kinderzimmer hängt noch das Avril-Lavigne-Poster, im Café Ulli wird Malibu Orange und Pfirsichspritzer gesüffelt. In Alkohol getränkte Nostalgie, die natürlich nicht funktioniert. Zurückzukehren zu dem, was man einmal war, hat noch nie geklappt. Vor allem auch deshalb, weil Anja bald feststellen muss, dass sich ihre beste Freundin Magda radikal verändert hat. Bislang ein Freigeist, Weltenbummlerin, klebt sie plötzlich an ihrem neuen Freund Volker. Ein blasser Typ, der sein Granola selbst macht und Gamben baut. Ein Mann mit schwerer Kindheit, der offen mit seinen Gefühlen umgeht und auch weinen kann. Anja findet ihn bald zum Kotzen.
„Malibu Orange“ ist ein Buch über Freundschaft und den Verlust davon; über das große Alleinsein, Orientierungslosigkeit, Identitätsverlust, Generationenkonflikte und schließlich über den Tod. Schwere Brocken, die Haidacher nie auf die leichte Schulter nimmt, die sie aber mithilfe ihrer spitzen Sprachaxt zerkleinert und damit leichter verdaulich macht. Haidacher schreibt scharfzüngig, aber nie ätzend. Mitunter gehen die Gäule etwas mit ihr durch und die Suaden geraten etwas langatmig und angestrengt, aber wenn dann das nächste Malibu Orange im Café Ulli gekippt wird, kehrte wieder Ruhe ein.
Nicht für immer. „Ich check das Leben nicht“, resigniert Anja an einer Stelle und muss einmal mehr feststellen, dass das echte Leben eher holprig als verwegen ist. Alles andere als holprig ist Ulrike Haidachers Beschreibung dieses Zustands, der wohl nicht nur auf ihre Romanfigur zutrifft.
Ulrike Haidacher. Malibu Orange. Leykam, 214 Seiten, 24 Euro.
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Was als politisches Bonmot schon seit längerem die Runde macht, trifft auch auf die Settings in den Büchern von T. C. Boyle zu: Die Richtung stimmt – es geht abwärts. Schon lange bevor der Begriff „Climate Writing“ en vogue war, hat sich der US-Autor in seinen breitenwirksamen, aber tief bohrenden Romanen und Erzählungen mit der Klimakrise und den Umgang der Menschheit damit beschäftigt. Dabei zeigte sich, dass man offenbar weltweit Feuer und Flamme für das Floriani-Prinzip ist. „Verschon‘ mein Haus, zünd‘ and‘re an.“ Die englische Entsprechung dafür ist übrigens das Akronym NIMBY. Es steht für „Not In My Backyard“ - Nicht in meinem Hinterhof.
Mit feiner Ironie, aber ohne destruktiven Zynismus schnüffelt Boyle auch in seinem neuen Erzählband „I Walk Between The Raindrops“ in den Hinterhöfen menschlichen Verhaltens herum, und seine Spürnase führt ihn zielsicher in übelriechende Ecken. Und gleich in der voltenreichen Titelgeschichte wird klar, worum es dem 77 Jahre alten Schriftsteller in den 13 Erzählungen des Bandes geht: Nicht nur um die Verwundbarkeit des Planeten, sondern auch um die Verletzlichkeit und Fragilität der Menschen darauf. Deren Arroganz und Ignoranz spart Boyle freilich auch nie aus. „I Walk Between Raindrops“ beginnt heimtückisch harmlos mit einer skurrilen Szene in einer Bar und einer aufdringlichen Frau. Dann schwenkt Boyle zu einem Sturzflut-Szenario in Kalifornien, Leichenbergen und einem Mann, der sich im Schlamm nicht die schönen Schuhe verdrecken will. Die brillante, mehrbödige Erzählung streift noch eine peinliche Verkuppelungsanordnung und endet schließlich im Suizid.
Boyle ist ein aufrichtiger und aufwühlender Beobachter, der nicht belehrt, sondern uns lehren möchte, genau in den Spiegel zu sehen. Die Erzählungen kreisen um Vereinsamung, Verrat, in einer Geschichte trifft eine Frau in einem Zug auf einen Incel-Vertreter und führt mit dem jungen Frauenhasser ein abgründiges Gespräch. Immer geht es um kollektive oder individuelle Verkrustungen und unsere Unfähigkeit, damit umzugehen. Auch das omnipräsente Thema KI spart Boyle nicht aus und skizziert, was passiert, wenn Maschinen – in diesem Fall ein selbstfahrendes Auto namens Carly – das Kommando übernehmen und darüber entscheiden, wohin die Fahrt geht und wer vertrauenswürdig genug ist, dass ihm die Fahrzeugtür geöffnet wird.
Auch der neue Boyle ist wieder sehr unterhaltsam, erschreckend unterhaltsam. Währenddessen kommen die Einschläge näher. Aber der Heilige Florian wird schon dafür sorgen, dass es nicht in unserem eigenen Hinterhof kracht.
T. C. Boyle. I Walk Between Raindrops. Hanser, 270 Seiten, 25,70 Euro.
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Der Preis für den originellsten und wohl auch längsten Buchtitel ist ihm gewiss, aber natürlich ist auch der Inhalt des neuen Werks des deutsch-bosnischen Schriftstellers Saša Stanišić wieder höchst originär, gewieft und literarisch hochwertig. „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ heißt das Buch, das sich jeder Gattungsbezeichnung entzieht. Es ist kein Roman, so viel steht fest, auch kein Erzählband im klassischen Sinn. Aber ist es nun Fiktion, Autofiktion oder Autiobiografie? Im Grunde ist es völlig egal, denn jede Literatur ist bekanntlich vom Leben des Autors getränkt, und Saša Stanišić hat nie geleugnet, dass seine Erzählwelt untrennbar mit seiner Lebenswelt verbunden ist.
Die Erzählungen und Geschichten im neuen Buch sind oft im Migrantenmilieu angesiedelt. Stanišić selbst wurde 1978 im damals jugoslawischen Višegrad geboren, 1992 flüchtete er im Zuge des Bosnienkrieges mit seinen Eltern nach Heidelberg und verbrachte seine Jugend im Stadtteil Emmertsgrund. Und dort ist auch die erste Erzählung mit dem Titel „Neue Heimat“ angesiedelt. Eine Gruppe von „ausländischen“ Jugendlichen, darunter auch ein Saša, hockt im Sommer 1994 zusammen, und da hat Fatih, Gastarbeiterkind aus der Türkei, eine brillante Idee: „Wie super wäre es, wenn es einen Proberaum für das Leben gäbe?“ Die Details: Man geht hinein und probiert zehn Minuten die Zukunft aus. Kostenpunkt 130 Mark. Falls die Zukunft passt, loggt man sich fix ein. Kostet dann allerdings 130.000 Mark.
Saša Stanišić entpuppt sich einmal mehr als scharfsinniger Sprachschelm, der gerne auch wahlweise lustige, berührende oder blitzgescheite Pointen setzt. Die Erzählungen hängen lose zusammen, und immer geht es um andere Leben, andere Optionen, andere Abzweigungen – um Möglichkeitsräume also. Da ist zum Beispiel die Putzfrau Dilek, in deren Welt plötzlich die Zeit stehen bleibt, ohne dass sie es zunächst merkt. Sie nutzt aber den Stillstand, um ihr eigenes Leben zu überdenken. „Die Welt hatte sich lange genug an Dilekt bedient, jetzt bediente sich Dilek an der Welt.“
Auch die letzte Erzählung heißt „Neue Heimat“, und damit vollendet Saša Stanišić das genüssliche Spiel um Realität und Fiktion. Als erfolgreicher Autor kehrt er 2023 für eine Lesung nach Emmertsgrund zurück und findet dort Spuren seines Jugendlebens. Oder ist auch diese „echte“ Rückkehr nur ein Trick? Man weiß es nicht. Und es ist auch egal. Denn eines ist gewiss: Stanišić destilliert aus seinem Leben hochprozentige Literatur. Nur das zählt.
Saša Stanišić. Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne. Luchterhand, 254 Seiten, 24,70 Euro.
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Die ganze moderne amerikanische Literatur stammt von einem Buch von Mark Twain ab, das ‚Huckleberry Finn‘ heißt. Davor gab es nichts. Und seither hat es nichts so Gutes gegeben.“ Diese etwas allzu dick aufgetragene Lobpreisung von Ernest Hemingway gilt einem Buch, das 1884 als „Zwillingsroman“ zu „Tom Sawyer“ erschienen ist und bis heute in der Beurteilung zwischen Jugendbuch, Erwachsenenlektüre und Abenteuerroman changiert. Mit dem Sklaven Jim hat Twain eine rührende Romanfigur geschaffen. Und genau hier beginnt die Problematik: Obwohl der Roman voller Gesellschaftskritik, vor allem am systemischen Rassismus, steckt, zeichnet Twain – eigentlich Samuel Langhorne Clemens – den Sklaven Jim als ziemlich einfältigen Charakter. Das macht den Roman für afroamerikanische Leser bis heute zur Herausforderung, ja Zumutung.
Aber Jim spielt nur den Dummen! „Sklavenfilter“ nennt er das. In Wahrheit ist Jim, der eigentlich James heißt, gebildet, kann lesen und bringt es auch den anderen Sklaven bei – natürlich im Geheimen. Denn nur wenn sich die Weißen nicht unterlegen fühlen, haben es die Schwarzen einigermaßen gut. In seinen Träumen führt James übrigens hitzige Streitgespräche mit Voltaire über die Errungenschaften, aber auch das Versagen der Aufklärung.
Was wie eine absurde literarische Schubumkehr klingt, ist der ebenso subversive wie geniale Schachzug des US-Schriftstellers Pervical Everett, der die berühmte Geschichte von Huckleberry Finn neu erzählt, diesmal allerdings aus der Sicht des Sklaven Jim. „James“ heißt dieses Meisterwerk von Roman, das alles auf den Kopf stellt – und dadurch eine schmerzhafte Schräglage ins Gerade rückt. Und die Selbstermächtigung beginnt bei der Sprache.
Twain legte den Schwarzen in seinem Roman eine spezielle Ausprägung des Südstaatenenglisch in den Mund. Dabei handelte es sich um „eine Art retardiertes, einfältiges Idiom“, wie Nikolaus Stingl, der deutsche Übersetzer des Everett-Romans, in einem Roman anmerkt. Ein Idiom, wie es in der Literatur lange Zeit Angehörigen vermeintlich „primitiver Völker“ zugedacht wurde. Percival Everett persifliert nun gefinkelt dieses Idiom und enttarnt dadurch den linguistischen Diskriminierungsmechanismus. Immer wenn James oder andere Sklaven mit Weißen sprechen, verfallen sie in diesen künstlichen Slang, der der herrschenden Klasse ein Gefühl der Überlegenheit und Abgrenzung vermittelt.
Was die Handlung betrifft, bleibt Everett nah an der Vorlage Twains und erzählt eine Geschichte von Flucht, Verfolgung, Mord, Totschlag, Lynchjustiz – aber auch Freundschaft. Denn in Wahrheit sind sowohl der weiße, vom Vater misshandelte Junge als auch der schwarze, von seinen „Besitzern“ malträtierte Sklave verfolgte Outlaws, die von ihrer Freiheit träumen. James“ ist beides, und das ist ein rarer Glücksfall: Wichtiges politisches Statement der Selbstermächtigung und rasant geschriebenes Road- bzw. Flussmovie, denn der mystische Mississippi zieht sich auch bei Everett wie ein schlammiges Lebewesen durch das Geschehen.
Percival Everett hat bereits die Romanvorlage für den herausragenden, oscarprämierten Film „American Fiction“, in dem ebenfalls Rassenklischees enttarnt werden, geliefert. „James“ verdient ebenfalls die höchsten Auszeichnungen.
Percival Everett. James. Hanser, 330 Seiten, 26,80 Euro.
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Zwischen 1849 und 1850 hat Charles Dickens in Fortsetzungen seinen autobiografisch grundierten Roman „David Copperfield“ veröffentlicht, der später in den Kanon der Weltliteratur eingehen sollte. Mehr als 170 Jahre später wagte sich die US-Schriftstellerin Barbara Kingsolver an eine freie Neuinterpretation des berühmten viktorianischen Entwicklungsromans. Und, um es vorwegzunehmen: Damit gelang der Pulitzer-Preisträgerin ein fulminantes, berührendes, verstörendes erzählerisches Glanzstück.
Barbara Kingsolver hatte Dickens zwar im „Rückspiegel“, doch ihre Adaption ist ein eigenständiges und eigenwilliges Werk, das sie in einen hochaktuellen Kontext stellt. Nicht das verrußte London ist Schauplatz der Handlung, sondern das Lee County im US-Bundesstaat Virginia. Dieses County zählt zu den ärmsten in den USA, ist Hillbilly-Hinterhof. Gebeutelt werden die „Hinterwäldler“ durch hohe Arbeitslosigkeit und niedrige Lebenserwartung, die Opioidkrise wütet hier besonders stark – ideales Terrain also für vergiftete Trump-Versprechungen. Kingsolver selbst ist im Osten von Kentucky aufgewachsen, an den Ausläufern der Appalachen, und musste am eigenen Leib Diskriminierung und Ausgrenzung erfahren.
„Ich war tätowiert mit der Scheiße des Lebens.“ Ein Satz, den Damon Fields, wegen seiner roten Haare Demon Copperhead genannt, oft und zurecht als Kurzbeschreibung seiner Existenz verwendet. Er ist der Protagonist dieser packenden Geschichte, die eine Mischung aus Bildungs-, Schicksals und Coming-Of-Age-Roman ist. Die Sprache Kingsolvers ist dem Milieu angepasst, durch ihre Herkunft bringt sie tiefes Verständnis für die Komplexität und soziale Brutalität der Hillbilly-Biografien mit. Demon Copperhead also, der David Copperfield 3.0.
Die Mutter Junkie-Braut, der Vater vor seiner Geburt gestorben, der Stiefvater ein prügelnder Berserker. Als auch die drogensüchtige Mutter stirbt, wird Demon von einer Pflegefamilie zur nächsten weitergereicht, muss als Kind und Jugendlicher auf Tabakplantagen und Müllplätzen schuften und landet schließlich bei der Großmutter väterlicherseits, die unerwartet zum Rettungsanker wird. Aufgefangen von einem liebevollen Umfeld, wird er zum Football-Star, durchlebt eine kurze Phase des Glücks, aber die Abwärtsspirale beginnt sich neuerlich zu drehen. Demon und seine große Liebe versinken im Schmerzmittel-Sumpf, der Teufelskreis schließt sich. Doch, ähnlich wie bei Dickens, bleibt die Hoffnung trotz allem am Leben. Am Ende wird nicht alles gut, aber es bleibt auch nicht alles schlecht. Barbara Kingsolver übernimmt Erzählmotive und Figuren aus der berühmten „Vorlage“. Wenn man David Copperfield kennt, ist das ein schöner Bonus; aber auch ohne dieses Wissen ist „Demon Copperhead“ ein ergreifendes, einzigartiges Werk, das lange nachhallt.
Barbara Kingsolver. Demon Copperhead. dtv Verlag, 864 Seiten, 27,50 Euro.
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Der Titel des Buches ist ebenso ungewöhnlich wie sein Inhalt. „Die Lungenschwimmprobe“ heißt der Roman des norwegischen Schriftstellers Tore Renberg, und bereits der Nebentitel verrät viel: „Verteidigung einer jungen Frau, die des Kindsmords bezichtigt wurde.“ Denn genau darum geht es in diesem außergewöhnlichen Roman, der auf historischen Fakten beruht und durch Renbergs Erzählkunst zum literarischen Ereignis wird.
Es ist eine ebenso erschütternde wie packende Geschichte, die sich an der Schnittstelle zwischen Epochen und Ideologien zuträgt. Hier der Klerus, der in Sachen Moral noch immer das Monopol innehat; dort die Wissenschaft, die sich lieber auf Beweise stützt als auf Glaubenssätze.
Schauplatz ist die Stadt Leipzig im Jahre 1681. Die blutjunge Anna Voigt, Tochter eines Gutsbesitzers, wird beschuldigt, ihr neugeborenes Kind getötet zu haben. Darauf steht die Todesstrafe. „Jene Frauen, die ein lebendiges oder wohlgebildetes Kind geboren haben und es heimlich, böswillig, vorsätzlich töten, werden gewöhnlich lebendig begraben und gepfählt.“
So trocken ist die Grausamkeit in der „Constitutio Criminalis Carolina“, dem Deutschen Strafgesetzbuch von 1532, festgehalten. Das Schicksal der Frau wäre besiegelt, wenn da nicht zwei Männer gewesen wären: der junge, engagierte Anwalt Christian Thomasius, ein heute vergessener Aufklärer und Humanist, der für kritisches Denken, Meinungs- und Religionsfreiheit eintrat und sich dadurch mit der klerikalen Obrigkeit anlegte.
Diesen Kampf gegen religiösen Fanatismus und Dogmatismus schildert Renberg besonders plastisch und drastisch. Eine maßgebliche Rolle spielte zudem der Arzt Johannes Schreyer, der das spektakuläre, titelgebende Experiment wagte und dadurch ein Pionier der Rechts- bzw. Gerichtsmedizin wurde – auch er eine historische Figur. Die Lungenschwimmprobe besagt Folgendes: Sinkt die Lunge nach der Autopsie im Wasser, ist das Kind tot geboren. Sinkt sie nicht, enthält sie Luft – das Kind hat also geatmet bzw. gelebt.
Dieser Roman, der auch die gespaltene Gesellschaft des 17. Jahrhunderts in der Mitte Europas abbildet, ist eine rundum geglückte Kombination aus Fakten, Fantasie und Empathie. Er habe sich selbst als Anwalt dieser jungen Frau gefühlt, erzählt Tore Renberg gerne in Interviews. Das spürt man in jedem Satz. Der Prozess gegen die 15 Jahre alte Anna Voigt dauerte übrigens sechs Jahre lang, inklusive Kerkerhaft und Folter.
Tore Renberg. Die Lungenschwimmprobe. Luchterhand, 702 Seiten, 26,80 Euro.
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„So einsam sind sie in ihrem um die Erde kreisenden Raumschiff und gleichzeitig einander so nah, dass ihre Gedanken, ihre individuellen Mythologien, bisweilen zusammenfinden.“ Mit diesem Satz, der bereits die in sich ruhende Erhabenheit der Sprache erahnen lässt, beginnt der Roman „Umlaufbahnen“ der britischen Schriftstellerin Samantha Harvey, für den sie unlängst mit dem Booker Prize 2024 ausgezeichnet wurde. Und es ist fürwahr eine preiswürdige, faszinierende und originäre Geschichte, die Harvey erzählt, vielmehr eine Meditation voll Poesie, aber auch Dringlichkeit. Denn es geht in diesem Buch um Schönheit und Zerstörung; um Mensch, Masse, Macht – und Ohnmacht. Es geht um uns und um den Planeten, den wir so heruntergewirtschaftet haben, dass er sich wohl nicht mehr erholen wird.
Sechs Astronautinnen und Astronauten – zwei Frauen und vier Männer aus verschiedenen Nationen – umkreisen in einem Raumschiff diesen geliebten und geknechteten Planeten und blicken voll Sanftmut und Sorge auf ihn herab. „Die Erde ist wie das Gesicht einer Angebeteten; sie beobachten, wie sie schläft und wie sie wacht, und verlieren sich in ihren alltäglichen Gewohnheiten.“ Die Astronauten führen in der Raumstation wissenschaftliche Experimente durch; beobachten einen Taifun, der auf die Philippinen zusteuert. Und dort oben, so fern und doch so nah, finden diese sechs Menschen allmählich heraus, dass die Menschheit wie ein pubertierender Teenager ist, der alles kurz und klein schlagen will, „mit Hang zu Selbstverletzung und Nihilismus“.
Eine fast unheimliche Stille und gleichzeitig unbändige Kraft durchströmen diesen brillanten Roman. Private Gedanken der Astronauten vermischen sich mit Betrachtungen über Gott und die Welt – buchstäblich. „Wie kann man Astronaut sein und gleichzeitig an Gott glauben?“, möchte die Britin Nell den Amerikaner Shaun fragen. Und dieser würde gerne wissen, wie sie Astronautin sein und nicht an Gott glauben kann. Schöpfung oder Urknall?
Bei einem Thema wie diesem läuft man Gefahr, in die Dystopie-Falle zu tappen – das tut Harvey nicht. Ihr Roman umkreist die großen und kleinen Fragen unserer Existenz, und immer ist da ein entzücktes und mitunter entrücktes Staunen über die Einzigartigkeit des Lebens. "Aus dem Nichts überfällt sie das Glück“, heißt es an einer Stelle dieses Romans. Nicht aus dem Nichts, sondern beim Lesen dieses Buches überfällt einen das Glück. Harveys Schriftsteller-Kollege Max Porter drückt es so aus: „Dieser Roman ist so großartig, dass man als Leser sein Herz erweitern muss, um alles aufnehmen zu können.“
Samantha Harvey. Umlaufbahnen. dtv, 221 Seiten, 22,70 Euro.
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Berichte über die katastrophale politische und humanitäre Situation im Sudan hört, sieht und liest man fast täglich in den Medien. Abdelaziz Baraka Sakin musste sein Heimatland bereits 2012 verlassen, ging ins Exil nach Europa. Er war im Sudan einer der bekanntesten Schriftsteller, aber seine Bücher, die oft von sozialen Randgruppen und vom Krieg handelten, waren der Militätdiktatur ein Dorn im Auge. „Wenn ich in den Sudan zurückgehen würde, wäre ich meines Lebens nicht sicher“, sagte Sakin in einem Interview mit der Kleinen Zeitung, als er 2023 Stadtschreiber von Graz wurde. Und Graz ist auch Dreh- und Angelpunkt seines aktuellen Romans „Der Rabe, der mich liebte“.
Das Buch handelt von zwei Männern aus dem Sudan, die über den sogenannten „Ameisenweg“ – das ist die Fluchtroute, die von der Türkei nach Mitteleuropa führt – nach Graz gelangen. Die beiden Freunde – Al-Nur und Adam Saad Saadan – ziehen weiter in den „Dschungel“ von Calais; ein riesiges Flüchtlingslager, von wo aus viele Migranten mit Booten versuchen, nach Großbritannien zu gelangen. Auch Adam, der bald Adam Ingliz genannt wird, hat nur ein einziges Ziel: Er möchte Professor für Sprachwissenschaft in Oxford werden. Und über den Kanal gelangen möchte er mit einem Heißluftballon. Natürlich scheitert das Unternehmen auf spektakuläre Art.
„Der Rabe, der mich liebte“, ist eine eindringliche, vielstimmige und vielschichtige Erzählung über Vertreibung, Flucht und Entwurzelung. Adam Ingliz ist eine Art heiliger Narr, ein Don Quixote, der nicht gegen Windmühlen kämpft, sondern gegen die Mühlsteine aus Angst, Verwirrung und Verzweiflung, die ihn immer tiefer in den Abgrund ziehen. Ingliz kehrt nach dem Ballonabenteuer nach Graz zurück, wo ihn auch sein alter Freund Al-Nur – der auf seiner Migrationsodyssee mehr Glück hatte – zufällig wieder trifft. Doch Ingliz erkennt ihn nicht, ist verrückt geworden, lebt und spricht nur noch mit Raben.
„Raketen“ werden Menschen auf der Flucht genannt. Sie sind oft illegal in Europa angekommen, haben keine Unterkunft, keine Perspektive, keine Zukunft. Dass sich Abdelaziz Baraka Sakin immer wieder auf das Raben-Poem von Edgar Allan Poe bezieht und auch sein eigener Text einen geheimnisvoll-fantastischen Unterton hat, ist kein Zufall. Das erste Buch, das Sakin je gelesen hat, war von Poe. „Ich war damals 13 Jahre alt und habe das Buch meinem Bruder, der es versteckt hatte, gestohlen. Unten am Fluss bin ich dann gesessen und habe begeistert Poe verschlungen.“
Adam Ingliz kann sich seinen Traum nicht erfüllen. Auf dem Rückweg, auf dem Ameisenweg, stirbt er. Die Zeitung schreibt: „Unbekannter Leichnam eines afrikanischen Flüchtlings wird von Raben bewacht.“
Abdelaziz Baraka Sakin. Der Rabe, der mich liebte. Verlag Klingenberg, 135 Seiten, 21,90 Euro. Das Buch erscheint in Kooperation des Verlag Klingenberg mit dem Kulturressort der Stadt Graz und der Kulturvermittlung Steiermark.
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Schenken
Schenke groß oder klein, Aber immer gediegen. Wenn die Bedachten Die Gaben wiegen, Sei dein Gewißen rein. Schenke herzlich und frei. Schenke dabei Was in dir wohnt An Meinung, Geschmack und Humor, So daß die eigene Freude zuvor Dich reichlich belohnt. Schenke mit Geist ohne List. Sei eingedenk, Daß dein Geschenk Du selber bist.
Joachim Ringelnatz
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Schenken kann man natürlich auch Bücher - das ganze Jahr über. Für mich sind Sie, geneigte Abonnentinnen und Abonnenten, ein besonders wunderbares Geschenk. Ich möchte mich deshalb an dieser Stelle von ganzem Herzen bei unserer großen "Lesezeichen"-Familie bedanken. Für die Treue, die Leidenschaft, die Belesenheit, die Anregungen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen besinnliche Tage. Auf Wiederlesen im Neuen Jahr.
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50 Kurzurlaube zu gewinnen!
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Zum großen Finale unserer Gewinnspielserie zum 20-jährigen Kleine Zeitung Club-Jubiläum lassen wir es noch einmal richtig krachen. Sie haben jetzt die Chance, einen von 50 Kurzurlauben für zwei Personen zu gewinnen! Ob Wellness, Kulinarik oder Aktivurlaub – lassen Sie sich rundum verwöhnen und schöpfen Sie neue Energie.
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