Gespräche im Bekanntenkreis über das politische Geschehen in Österreich haben dieser Tage zwei bestimmende Themen. Zum einen nach wie vor recht verbreitetes Unverständnis über die Entscheidung von Bundespräsident Alexander Van der Bellen, nicht dem stimmenstärksten FPÖ-Chef Herbert Kickl den Auftrag zur Bildung einer Bundesregierung gegeben zu haben. Wegen der Märtyrer-Rolle wäre es gewesen. Zum anderen beschäftigt die Frage, wie es ÖVP und SPÖ gelingen soll, sich auf ein Regierungsprogramm zu verständigen, das mehr als ein Minimalkompromiss ist. „Wie soll eine SPÖ mit dem Kurs, den sie unter Andreas Babler eingeschlagen hat, zur ÖVP passen?“, ist die am häufigsten gestellte Frage. „Und wie soll das noch dazu gemeinsam mit den Neos oder den Grünen gehen?“ Nicht nur wegen Fragen wie diesen wird vielfach von langen Regierungsverhandlungen ausgegangen. Ob das vor Weihnachten etwas wird? Unser Innenpolitik-Chef Walter Hämmerle hat in einer aktuellen Geschichte herausgearbeitet, warum es wider Erwarten doch schneller als weithin erwartet gehen könnte. Dafür spricht, neben vielen drängenden Problemstellungen im Land, auch die persönliche Motivlage von Karl Nehammer und Andreas Babler, die dringend Erfolge bräuchten.
Der Druck auf die Verhandler wird in den nächsten Wochen jedenfalls zunehmen. Begleitet werden wird das Ringen um programmatische Schwerpunkte und Posten von einer Unzahl an Forderungen, Positionspapieren und Wünschen, die aus allen möglichen Richtungen auf den Tisch gelegt werden. Papier ist geduldig. So fordert etwa „Austropapier“, die Interessenvertretung der heimischen Papierindustrie, einen Ausbau der Netzinfrastrukturen für Wasserstoff, eine Absenkung der CO2-Preise und eine Verlängerung der Strompreiskompensation bis 2030. Das passt nicht ganz zu den Forderungen, die von der Umweltschutzorganisation WWF und der Ökonomin Sigrid Stagl auf den Tisch gelegt werden. „Ein starkes Klimaschutz-Kapitel“ in einem Regierungsprogramm müsse Punkte wie Maßnahmen zur Reduktion des hohen Energieverbrauchs, eine neue ökosoziale Steuerreform und ein ambitioniertes Klimaschutzgesetz beinhalten. Die Verkehrsforschenden Günter Emberger und Barbara Laa (beide TU Wien) unterstreichen hingegen die Bedeutung der Mobilitätswende und bringen eine Novelle der Straßenverkehrsordnung ins Spiel. Im urbanen Raum müsse man daher verstärkt an „Einschränkungen des Pkw-Verkehrs wie autofreie Innenstädte“, City-Maut, verstärkter Parkraumbewirtschaftung oder durchgängigen Radwegnetzen arbeiten, heißt es. Der Verein für Wohnbauförderung will wiederum eine „Erhöhung der Wohnbauförderung auf mindestens 1 Prozent des BIP“ erreichen, der aktuelle Anteil liege bei etwa 0,4 bis 0,5 Prozent. Eine Anhebung würde jährlich rund 2,5 Milliarden Euro an zusätzlichen Mitteln bedeuten, rechnet der Verein vor.
Einen „Notruf“ aus den Bergen haben die alpinen Vereine Österreichs abgesetzt. Sie fordern „ein finanzielles Rettungspaket in der Höhe von 95 Millionen Euro“, dieses sei notwendig, um „272 alpine Stützpunkte und Wege“ in den nächsten fünf Jahren „vor dem Verfall zu retten“. Das „Bundesheer darf kein Stiefkind sein“, lässt der „Dachverband der wehrpolitischen Vereine“ die künftige Bundesregierung wissen. Die Militaristen erinnern an ihr umfassendes „Positionspapier 2023“ – modernes Gerät, regelmäßige Übungen und ordentliche Bezahlung für Soldaten seien unverzichtbar. Auch die Wunschliste des österreichischen Städtebundes ist lang: Reform der Grundsteuer, Reformen im Gesundheits- und Pflegebereich, Entlastungen der Städte bei den Umlagen an die Länder und eine Entflechtung der Transfers zwischen Ländern und Gemeinden sind darauf zu finden. Die Sozialwirtschaft Österreich (SWÖ), die Branchenvertretung der Arbeitgeber im privaten Sozial- und Gesundheitsbereich, fordert Finanzierungssicherheit und „Einbindung in Gesetzgebungsprozesse“.
Und dann ist da noch ein 127 Punkte umfassender Katalog, an dem ÖVP und SPÖ mit Blick auf die Altersstruktur ihrer Wählerinnen und Wähler nicht vorbeikommen werden. Schon im Juni hat der Seniorenrat (in dem der ÖVP-Seniorenbund und der SPÖ-nahe Pensionistenverband das Sagen haben) diesen Katalog vorgelegt und kürzlich seine Forderungen erneuert. Die Seniorinnen und Senioren wollen ein eigenes Ministerium für Altersfragen und Maßnahmen gegen Altersdiskriminierung – und sie sind gegen eine Erhöhung des gesetzlichen Pensionsantrittsalters.
Das waren nur einige der Forderungen, die in den letzten zehn Tagen erhoben oder erneuert wurden. Käme man all diesen nach, würde der Schuldenberg der Republik, der mittlerweile 395 Milliarden Euro hoch ist, noch viel schneller weiterwachsen als befürchtet.
Einen verhandlungssicheren Wochenstart wünscht,